▶ ÜBERSICHT | THEMENSCHWERPUNKTE

Sonntag, 3. Oktober 2021

Kissigs Kloogschieterei: Kurze Gedankenspiele zum US-Budgetobergrenzenstreit, einem strauchelndem Infrastrukturpaket, galoppierender Inflation, explodierenden Energiepreisen, Lieferkettenstörungen, Chinasorgen - und einem Lichtblick

Der Oktober hat begonnen, wie der September endetet: mit Kursverlusten auf breiter Front. Bestimmend bleiben die Nachrichten aus China und den USA, während Europa kaum eine Rolle spielt. Die Versorgungsengpässe in Großbritannien spitzen sich zu, weil der Brexit immer mehr seine Schattenseiten zeigt und das Land ohne die EU kaum noch ordentlich funktioniert. Viel war von den Brexiteers versprochen worden, wenig Positives ist wirklich eingetreten. Vor allem die bilateralen Handelsabkommen, die mit den US und China geschlossen werden sollten, kommen nicht voran. Beide Großmächte haben andere Prioritäten, auch auf lange Sicht.

In den USA konnte der drohende Shutdown erstmal abgewendet werden, eine dauerhafte Lösung im Budgetobergrenzenstreit ist aber nicht erzielt worden. Präsident Joe Biden kommt derweil mit seinem riesigen Infrastrukturpaket nicht voran, weil ihm auch nicht alle seiner Demokraten folgen wollen, was den Republikanern in die Karten spielt. Da das Land auf die ersten Zwischenwahlen seit der Präsidentschaftswahl zusteuert, wird die Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten weiter abnehmen.

Derweil bekommen immer mehr Branchen die Störungen in der globalen Lieferkette zu spüren und müssen ihre Produktion herunterfahren. Der Chipmangel bremst die Autobauer aus, aber auch die Technologieunternehmen. Hinzu gesellt sich das Problem, dass die Mehrheit der Seeleute auf den Containerschiffen nicht geimpft ist und unter den Einschränkungen der letzten 18 Monate besonders stark zu leiden hatte, da sie selbst in den Häfen auf den Schiffen eingesperrt waren und kaum Landgang hatten. Viele drohen, ihre Verträge nicht zu verlängern und dann würden die Containerschiffe nicht mehr alleine wegen der langen Wartezeiten in und vor den Häfen ausfallen, sondern schlicht wegen Personalmangels. Es droht damit nicht nur ein Weihnachtsfest ohne Geschenke oder zumindest mit einer deutlich reduzierten Auswahl, sondern dass sich die Probleme weit ins nächste Jahr hineinziehen...

Und das, während die Energiepreise weiter stark zulegen, die Immobilienpreise weiter angeheizt werden und die Gewerkschaften auf deutlich höhere Löhne drängen. Alles Faktoren, die die Inflation anheizen. Diese erreicht immer neue Höchststände, die es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Zwar dürfte der größte Anstieg auf den Basiseffekt zurückzuführen sein, weil die Inflation im Coronajahr 2020 extrem niedrig war und damit ab 2022 aus der Statistik herausfällt, aber die aktuelle Entwicklung deutet darauf hin, dass wir in den nächsten Jahren wohl mit einer dauerhaft höheren Inflationsrate zu rechnen haben werden. Noch sehen FED und EZB hier keine Gefahren für ihre Ziele von Inflationsraten von "durchschnittlich 2% pro Jahr", was natürlich an den extrem niedrigen Werten aus den Vorjahren liegt und sein Stück weit die aktuellen Werte von 4% bis 5% ausgleicht. Aber die Entwicklungen zeigen, dass die Inflationsrate auch in 2022 deutlich über 2% liegen wird und damit der Druck auf die Notenbank steigt, regulierend einzugreifen. Die Anleihezinsen am langen Ende haben schon merklich angezogen.

Dabei schwächt sich die Konjunktur weltweit ab. Die Erholung nach dem Coronaabsturz in 2020 läuft Ende 2021 weniger stark als erwartet und die Konjunkturprognosen werden heruntergeschraubt. Gleichzeitig werden die für 2022 angehoben. Doch auch diese Einschätzungen stehen unter Vorbehalt und könnten sich als zu optimistisch erweisen. Wenn nun eine deutlich steigende Inflation auf eine sich abschwächende Wirtschaft trifft, stehen die Notenbanken vor einem Dilemma. Erhöhen sie die Zinsen, würgen sie die Wirtschaft weiter ab. Aber sie können die Inflation auch nicht ungebremst ansteigen lassen, denn dann droht Stagflation, ein echtes Wohlstandsrisikoszenario.

In den letzten Jahrzehnten war immer China zur Stelle, wenn es mal brenzlig wurde. Doch die Weltkonjunkturlokomotive fährt mit angezogener Handbremse, seitdem die Regierung nicht mehr alleine auf Wachstum setzt. China verfehlt seine ambitionierten Klimaziele und muss daher den Stromverbrauch drosseln. Dabei dürfte aber auch eine Rolle spielen, dass China einen Großteil seiner Kohle aus Australien importiert und in diesem bilateralen Verhältnis gibt es zunehmen Spannungen. Und so erzwingt man gerade eine landesweite Senkung des Stromverbrauchs um 3%. Nicht etwa über Anreize und mit Vorlaufzeit, sondern per Dekret und Zwangsmaßnahmen – in China das Mittel der Wahl. Die Rationierung das trifft auch die Unternehmen und die Industrie und es ist von einem "Stromverknappungsschock" die Rede, denn die Produktionsausfälle treffen nicht nur binnenmarktorientierte Unternehmen, sondern auch Auftragsfertiger und Zulieferer für westliche Konzerne.

Und auch an der Regulierungsfront lässt China nicht locker. Bloomberg berichtet, China wolle weitere Schritte unternehmen, um die Internetkonzerne zu zügeln. Konkret sollen nun Unternehmen aus den Bereichen Shared Economy, Online-Gesundheitsvorsorge und smarte Logistik ins Visier genommen werden und damit trifft man erneut die bisherigen Highflyer, die auch bei internationalen Anlegern so beliebt sind. Der "regulatorische Crackdown" hält also an und setzt die Unternehmen und ihre Aktienkurse weiter unter Druck. Eine dauerhafte Erholung ist hier unter diesen Voraussetzungen erstmal nicht zu erwarten.

Da hilft auch nicht, dass der in Schieflage geratene zweitgrößte Immobilienentwickler China Evergrande durch Beteiligungsverkäufe seine ausstehenden Zinszahlungen bedienen konnte und somit der Zusammenbruch des Konglomerats erstmal wieder abgewendet werden konnte.

Die Stimmung an den Börsen ist weltweit im Keller. Die Zahl der Pessimisten nimmt zu, der Fear-and-Greed-Index ist unter 25 gefallen und damit wieder im Bereich extremer Angst. Der Oktober dürfte damit holprig werden, nicht nur für die Börsen. Der Lichtblick dabei ist, dass das Überraschungsmoment ins Positive gedreht ist. Wenn alle Welt weitere negative Nachrichten erwartet, bergen diese gegebenenfalls weniger Sprengstoff, als wenn gegenteilige Nachrichten eintreffen und so für Überraschungen sorgen. Dann werden die Marktteilnehmer auf dem falschen Fuß erwischt und müssen ihre Positionen umschichten. Daraus ergeben sich die starken Kursveränderungen. Gut möglich, dass wir schon gegen Ende Oktober die ersten positiven Überraschungen erleben werden, die dann die Basis für eine Jahresendrallye legen. Aber wie sagte Börsenaltmeister André Kostolany? "An der Börse ist alles möglich. Auch das Gegenteil". Wie wahr…

4 Kommentare:

  1. Denken Sie, dass für die Technologiewerte schon ziemlich alles eingepreist ist? Welchen Wert bei den 10 Jährigen Staatsanleihen sehen Sie in den nächsten 12-24 Monaten?

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ich habe keine konkreten Erwartungen für Anleihekurse bzw. die langjährigen Zinsen. Ich denke, dass das aktuelle Zinsniveau sich etwas anheben wird, aber von einer dauerhaften Zinswende mit nachhaltig ansteigenden Zinsen gehe ich nicht aus. Bei den Technologiefirmen ist viel Zukunftspotenzial eingepreist. Davon muss man den Aktienkurs losgelöst betrachten. Die Unternehmen können mit hohen zweistelligen Raten wachsen und dennoch zu hoch bewertet sein. Hier geht es um den Barwert, also den heutigen Wert des Unternehmens auf Basis der künftigen (unendlichen) summierten Unternehmensgewinne, die dann auf heute abgezinst werden. Die gewinne selbst sind die eine entscheidende Stellschraube, der Abzinsungsfaktor die zweite. Und diese ist nunmal der Zinssatz, den man für die Zukunft festsetzt. Geht man davon aus, dass der höher liegt als heute und ggf. sogar weiter steigt, dann ist der auf heute rückgerechnete Wert der Gewinne und damit der des Unternehmens niedriger. Entweder sind die Aktienkurse dann zu sehr aufgeblasen, oder sie verlieren zumindest Kurssteigerungspotenzial. Wie sich diese Situation auflöst, ist noch nicht absehbar und wird uns wohl länger beschäftigen. Grundsätzlich sind steigende Zinsen insbesondere für Wachstumswerte negativer als für etablierte Geschäftsmodelle.

      Löschen
  2. Annalena Baerbock wirds schon richten.

    AntwortenLöschen
  3. Interessante Anekdote zur "Chipkrise":
    https://news.ycombinator.com/item?id=26931498

    AntwortenLöschen