Samstag, 16. Oktober 2021

Turnaround-Spekulationen als Value Investment? Ernsthaft? Ernsthaft!

Spricht man an der Börse von einem Turnaround, hat man es mit einem Unternehmen zu tun, das in erheblichen Schwierigkeiten steckt. Das kommt gar nicht so selten vor und Peter Lynch klassifiziert deshalb in seinem Klassiker "Der Börse einen Schritt voraus" Turnaround-Werte gar als eigene Aktienkategorie. Bei diesen wankenden Unternehmen hat sich der Aktienkurs zumeist entsprechend negativ entwickelt und ist entweder stetig oder plötzlich deutlich zurückgegangen. Die Unternehmen reagieren überwiegend mit den selben Maßnahmen darauf: Stilllegung von Fabriken, Freisetzung von Personal, Veräußerung von Randbereichen, radikale Kostenreduzierung, Konzentration auf das Kerngeschäft.

»Sanierungen sind keine aufregenden Equity-Storys, aber bei Erfolg überaus ertragreich.«
(Hendrik Leber)

Wenn Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen und ihr Börsenkurs abstürzt, kann dies eine lukrative Chance für Anleger sein. Und zwar nicht nur für Spekulanten, die der Nervenkitzel reizt, sondern auch für langfristig orientierte Value-Investoren...

Doch nur bei Vorliegen ganz bestimmter Voraussetzungen spricht das Chance-Risiko-Verhältnis für ein Engagement. Aktien sind nicht alleine deshalb preiswert, weil ihr Kurs abgestützt ist, denn das würde voraussetzen, dass der Aktienkurs sich wieder auf das alte Niveau erholt. Nur dann lohnt es sich, in diese "gefallenen Engel" zu investieren! Deshalb muss man herausfinden, weshalb das Unternehmen in Schwierigkeiten steckt, was es dagegen zu tun gedenkt und wie erfolgversprechend diese Maßnahmen sein werden.
»Nur weil eine Aktie fällt, heißt das nicht, dass sie nicht noch weiter fallen kann«
(Peter Lynch)
Beispiele für "gefallene Engel" gibt es immer reichlich: Nokia, BlackBerry, AOLPraktiker, Commerzbank, General Electric oder die ganze Bandbreite der deutschen Solarhersteller wie Solarworld, Solon usw. Sie alle eint, dass sie einst heiß gehandelt wurden, dass ihre Bewertungen hoch und ihre Aussichten rosig waren. Doch dann kam der Absturz, es wurden Trends verpasst (Nokia, BlackBerry), sich mit Fehlinvestitionen verhoben, zu spät auf sich ändernde gesetzliche Rahmenbedingungen reagiert oder eine selbstzerstörerische Strategie eingeschlagen (Praktiker, Commerzbank). Die Aktien der einstigen Lieblinge können heute zu Ausverkaufspreisen erworben werden, und zu ihren Glanzzeiten hätte man sich nach solchen Kursen die Finger geleckt.

Und doch... die Aktien stehen nicht ohne Grund so tief, manche sind gar zum Penny-Stock verkommen, und Aktionäre sollten sich der Risiken stets bewusst sein: sie sind Eigentümer, keine Gläubiger. Im Insolvenzfall bekommen die Eigentümer als letztes Geld, wenn alle anderen bereits vollständig ausgezahlt wurden. Doch meistens liegt die Insolvenzquote deutlich unterhalb der Forderungen der Gläubiger, so dass Aktionäre nur in ganz seltenen Fällen aus den Masse-Erlösen bedient werden können.
»Der Totalverlust ist die hässliche Schwester des Turnarounds.«
Eine Turnaround-Spekulation setzt auf das Ausbleiben der Insolvenz, auf die erfolgreiche Restrukturierung  des Unternehmens. Als Anleger muss man also einschätzen (können), ob das Unternehmen wieder die Kurve kriegt, oder nicht. Das ist gar nicht so leicht, man braucht sich nur Yahoo anzusehen, die jahrelang verzweifelt versuchen, mit ständig wechselnden Strategien und Partnern in ihrem einstigen Hauptmarkt, den Internet-Werbeanzeigen, gegen den Branchengiganten Alphabet (Google) zu punkten. Yahoo wechselte inzwischen mehrfach den Besitzer und wurde immer weiter runtergerockt - nun sind die Überreste von AOL und Yahoo von Verizon an Finanzinvestor Apollo Global Management weitergereicht worden, der einen Neustart plant. Die beiden einstigen Ikonen des Internets erreichen zusammen noch 900 Millionen Nutzer, brachten aber nur noch $5 Mrd. ein. Verizon selbst hatte 2015 und 2017 für die beiden knapp $9 Mrd. bezahlt. Zur Erinnerung: 2008 wollte Microsoft-Chef Steve Ballmer Yahoo noch für $44 Mrd. übernehmen, doch deren Gründer und CEO Yang lehnte ab - zu billig. Und als AOL im Jahr 2001 Time Warner übernahm, wurde AOL mit $195 Mrd. an der Börse bewertet. Bei der Scheidung der beiden im Jahr 2009 wurde AOL noch mit $3,2 Mrd. bewertet - natürlich lagen damals als Folge der Finanzkrise alle Aktienwerte am Boden, aber selbst bei einem doppelt oder dreifach höheren Bewertungsansatz war die AOL-Episode für die Aktionäre ein Megaflop.

Erfolgreiche Turnarounds sind keine Selbstgänger

Dass es auch erfolgreiche Turnarounds gibt, hat Apple bewiesen. Richtig gelesen, das Unternehmen, das die Trends setzt, die iPods, die iPhones und iPads erfunden hat, das zum Unternehmen mit der höchsten Marktkapitalisierung wurde und das sich lange mit Google einen heißen Kampf um den Titel der wertvollsten Marke der Welt lieferte.

Dieses Unternehmen des vor zehn Jahren verstorbenen legendären Visionärs Steve Jobs stand Mitte der 1990er Jahre vor der Pleite und wurde damals von Erzfeind Microsoft gerettet. Ohne das visionäre Wirken von Steve Jobs wäre Apple heute Industriegeschichte wie Commodore mit ihrem C64. Und ohne Steve Jobs hätte es Microsofts Windows niemals gegeben - aber das ist eine andere Geschichte und für eine andere Ikone, Xerox, keine erfolgreiche. Entscheidend ist, dass Turnarounds nicht einfach so passieren, sondern dass sie harte Arbeit sind. Und es stellt sich die Frage, ob man als Aktionär, also Außenstehender, seriös bewerten kann, ob ein Turnaround-Versuch gelingt.
»Man muss die Dinge auch so tief sehen, dass sie einfach sind. Wenn man nur an der Oberfläche der Dinge bleibt, sind sie nicht einfach; aber wenn man in die Tiefe sieht, dann sieht man das Wirkliche und das ist immer einfach.«
(Konrad Adenauer)
Man kann dies anhand der betriebswirtschaftlichen Kennzahlen erkennen, wenn also die Verluste verschwinden und wieder Gewinne geschrieben werden, wenn der Cashflow ins Positive dreht, wenn der Verschuldungsgrad sinkt und die Margen steigen. Oder man erkennt es anhand der neuen Produkte, die den Händlern aus den Händen gerissen werden und auf einen unternehmerischen Erfolg schließen lassen. Zu diesem Zeitpunkt kann man in die Aktien investieren und sollte auf der sicheren Seite sein, dass absehbar keine Insolvenz mehr droht. Allerdings kauft man die Aktien auf diese Art keinesfalls mehr zum Tiefstkurs, denn den haben die Spekulanten erwischt, die Zocker, eben diejenigen, die ins fallende Messer gegriffen haben und zufälligerweise zum richtigen Zeitpunkt eingestiegen sind. Denn mehr als Zufall ist es nicht.
»Kaufe nicht, wenn der Kurs am niedrigsten ist, verkaufe nicht, wenn er am höchsten ist. Das können nur Lügner.«
Es scheint, als wenn für Value-Investoren nicht wirklich etwas zu holen wäre mit Turnaround-Werten. Und doch hat Warren Buffett seine Milliarden gerade mit Unternehmen gemacht, die in Krisen steckten und deren Kurse dramatisch abgestürzt waren. Richtig, jener Investor, der stets auf Ertragsstärke setzt, auf stetige und steigende Unternehmensgewinne, auf Einstiegskurse unterhalb des fairen Wertes der Aktien und dessen Mantra lautet, keine mittelmäßigen Unternehmen zu kaufen, sondern sich ausnahmslos an den Besten zu beteiligen.

Warren E. Buffett
Wie das zusammen passt? Buffett setzt auf Top-Unternehmen, auf Apple, auf Coca Cola, auf Bank of America, auf American Express, auf Geico  - Unternehmen, die von hervorragenden Leuten geführt werden, die solide Finanzen aufweisen (hohe Renditen und geringe Verschuldung) und die in ihrem Markt schier unangreifbar sind, sich also eine Festung errichtet haben, einen sog. "ökonomischen Burggraben". Auch solche Unternehmen geraten - verschuldet oder unverschuldet - in unternehmerische Krisensituationen oder in einen allgemeinen Börsencrash und genau dann kauft Warren Buffett gerne die Aktien dieser herausragenden Unternehmen. Er setzt auf die Dauergewinner, wenn sie gerade keiner haben will, und gibt ihre Aktien nicht wieder her. Seine Investmentphilosophie lautet: "kaufe niedrig, verkaufe nie".
»Große Anlagemöglichkeiten kommen immer dann, wenn hervorragende Unternehmen vorübergehend in schwieriges Fahrwasser geraten und deshalb unterbewertet werden.«
(Warren Buffett)
Und das ist das Geheimnis der erfolgreichen Turnaround-Spekulation: nicht, eine Aktie zu kaufen, weil sie gefallen ist und vielleicht wieder steigen könnte, sondern die Aktien von herausragenden Unternehmen zu kaufen, wenn sie gerade billig zu haben sind, in der Gewissheit, dass sie wieder auf ihren fairen Wert steigen werden!
»Geduld ist die oberste Tugend des Investors.«
(Benjamin Graham)
Hierfür benötigt man Geduld, man muss nicht nur die besten Unternehmen finden, sondern man muss auch auf den richtigen Zeitpunkt warten, um günstig einzusteigen. Bisweilen wartet Buffett jahrelang auf diesen Moment, um sich in einem Unternehmen zu engagieren. Und es stört ihn auch nicht, wenn er in der Zwischenzeit für seine Liquidität nur geringe Zinsen erhält - denn wenn der perfekte Einstiegszeitpunkt gekommen ist, dann fährt er langfristig deutlich höhere Renditen ein, als ihm eine bessere Verzinsung seines Cash-Bestands zuvor gebracht hätte.

Machen Sie es wie Warren Buffett, finden Sie die besonderen Unternehmen, schreiben Sie sie auf eine Liste und ermitteln Sie den fairen Wert des Unternehmens. Dann ziehen Sie, wie von Benjamin Graham in seinem Standardwerk "Intelligent Investieren" beschrieben, eine Sicherheitsmarge ("Margin of Safety") von mindestens 20% ab, und bestimmen sie so den Kurs, zu dem sie einsteigen wollen. Dann warten Sie darauf, dass der Aktienkurs auf oder unter dieses Niveau fällt und dann kaufen Sie soviel sie können. Anschließend warten Sie, während die Käufe der anderen Ihr Aktienpaket immer wertvoller und Sie reich macht.
»Turnarounds seldom turn.«
(Warren Buffett)

Turnaround-Spekulationen sind Value Investing - wenn man es richtig macht!

Buffetts mahnende Worte erinnern uns daran, dass erfolgreiche Turnarounds zwar sehr lukrativ sind, aber bei Weitem keine Selbstgänger sind. Es reicht nicht aus, einfach nur Aktien zu kaufen, deren Kurs abgestürzt ist. Nein, entscheidend ist, nur die Aktien auszuwählen, deren Aktienkurs durch den Absturz unterhalb ihres fairen Wertes notiert, wo die Panik der Anleger den Kursverfall übertrieben hat und wo sich hieraus eine Sicherheitsmarge ergibt. Und daraus eine Chance auf die Wiederauferstehung.
»Die meisten Anleger glauben, Qualität und nicht etwa der Preis sei der Maßstab dafür, ob eine Geldanlage riskant ist. Doch qualitativ hochwertige Aktiva können riskant und Vermögenswerte niedriger Qualität können sicher sein. Es ist alleine eine Frage des Preises, den man für sie bezahlt hat.«
Die Grundsätze des Value Investings gelten also auch bei einer Turnaround-Spekulation: der Gewinn liegt im Einkauf. Allerdings verbunden mit deutlich erhöhten Chancen und Risiken. Denn der Spielraum für Fehler ist limitiert...

Kissigs Turnaround-Spekulationen als Wikifolio

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